Aktuell Israel und besetzte palästinensische Gebiete 02. Mai 2024

Offener Brief: Keine Rüstungsexporte, die zu Völkerrechtsverstößen in Gaza führen könnten

Das Bild zeigt die Reste einer Rakete im Vordergrund, im Hintergrund sind zerstörte Gebäude zu sehen

Eine nicht explodierte israelische Rakete liegt inmitten von Trümmern und Ruinen im Flüchtlingslager Nuseirat im Gazastreifen (29. April 2024).  

Gemeinsam mit einer Gruppe von 37 deutschen zivilgesellschaftlichen Organisationen und Netzwerken, darunter Aktion Aufschrei, Oxfam Deutschland, Care International, medico international und terre des hommes fordert Amnesty International die Bundesregierung in einem Offenen Brief dazu auf, Rüstungsexporte nach Israel zu stoppen, die mit Risiken für weitere Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen im Gazastreifen und dem Westjordanland einhergehen. Außerdem soll sich die Bundesregierung für einen Waffenstillstand, eine massive Ausweitung der humanitären Hilfe in Gaza und die sofortige Freilassung der Geiseln einsetzen. 

Der Offene Brief im Wortlaut:

Wir wenden uns an Sie als Mitglieder der Bundesregierung, da Sie in Ihren Funktionen für Rüstungsexportgenehmigungen nach Israel, die Einhaltung von völkerrechtlichen Verpflichtungen und die Finanzierung von humanitärer Hilfe Deutschlands verantwortlich sind.

Wir fordern Sie auf, der Resolution des UN-Menschenrechtsrates (A/HRC/55/L.30), angenommen am 5. April 2024, dem Appell der UN-Expert*innen vom 23. Februar 2024 sowie der Empfehlung aus dem Bericht der UN-Sonderberichterstatterin vom 25. März 2024 zu folgen und umgehend die Genehmigung und den Export von Rüstungsgütern nach Israel zu stoppen, die in Gaza eingesetzt werden könnten. Der UN-Hochkommissar für Menschenrechte hat Staaten ebenfalls aufgefordert, den Transfer von Waffen einzustellen, wenn die reale Gefahr besteht, dass sie mit ihrem Einsatz das humanitäre Völkerrecht verletzen. Dazu zählt auch die potentielle Abgabe von Bundeswehrmaterial.

Der Internationale Gerichtshof (IGH) ordnete am 26. Januar 2024 "sofortige und wirksame Maßnahmen" an, um die Palästinenser*innen im besetzten Gazastreifen vor der Gefahr eines Völkermords zu schützen. Die Völkermordkonvention von 1948 verpflichte die Vertragsstaaten, alle ihnen vernünftigerweise zur Verfügung stehenden Mittel einzusetzen, um Völkermord in einem anderen Staat so weit wie möglich zu verhindern. Den Einschätzungen des Gerichts folgend, warnen UN-Expert*innen, dass jegliche Lieferungen von Waffen oder Munition an Israel, die im Gazastreifen eingesetzt werden könnten, gegen das humanitäre Völkerrecht verstoßen könnten und damit sofort eingestellt werden müssten. Die Expert*innen betonen, dass "alle Staaten die Einhaltung des humanitären Völkerrechts durch die an einem bewaffneten Konflikt beteiligten Parteien 'sicherstellen' müssen, wie es die Genfer Konventionen von 1949 und das Völkergewohnheitsrecht vorschreiben. Die Staaten müssen dementsprechend davon absehen, Waffen oder Munition - oder Teile davon - zu transferieren, wenn aufgrund der Fakten oder früherer Verhaltensmuster zu erwarten ist, dass sie zur Verletzung des Völkerrechts eingesetzt werden."

Die Mitglieder des Bundessicherheitsrates, die über Rüstungsexporte entscheiden, könnten gemäß des Appells von UN-Expert*innen vom 23. Februar 2024 "individuell strafrechtlich für die Beihilfe zu Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Völkermord verantwortlich sein".

Der für Deutschland verbindliche Waffenhandelsvertrag (ATT) und der Gemeinsame Standpunkt der EU gebieten es, Exportgenehmigungen zu versagen, wenn die Gefahr besteht, dass mit gelieferten Rüstungsgütern Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht begangen oder erleichtert werden könnten. Ein niederländisches Gericht in Den Haag hat am 12.2.2024 geurteilt, dass die niederländische Regierung aus diesem Grund "jegliche Ausfuhr und Durchfuhr von F-35-Teilen mit Endbestimmung Israel innerhalb von sieben Tagen nach Zustellung dieses Urteils einzustellen" hat.

Wir, die unterzeichnenden Organisationen, verurteilen den brutalen Angriff der Hamas und anderer bewaffneter Gruppen auf Israel vom 7. Oktober 2023, bei dem etwa 1.200 Menschen getötet und mehr als 240 Menschen als Geiseln genommen wurden. Das Recht Israels, sich zu verteidigen, erkennen wir an. Bei allen militärischen Handlungen muss jedoch das Völkerrecht uneingeschränkt geachtet werden, einschließlich Israels Verantwortung als Besatzungsmacht. Wir verurteilen deshalb diejenigen militärischen Maßnahmen der israelischen Regierung in Gaza, die gegen die Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht verstoßen. Dazu gehören die gezielte Bombardierung von zivilen Zielen wie Flüchtlingslagern, Schulen, Krankenhäusern sowie Wohnhäusern und die bewusst in Kauf genommene unverhältnismäßige Tötung von Zivilist*innen, darunter vor allem Kinder und Frauen. Gemäß des Amtes der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) sind seit Beginn des Krieges mindestens 34.000 Palästinenser*innen getötet und über 77.000 verletzt worden.

Große Sorgen bereitet auch die Situation im besetzten Westjordanland und Ostjerusalem. In seinem Bericht an den Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen vom März benennt der Hochkommissar für Menschenrechte, Volker Türk, die Ausweitung der israelischen Siedlungen als Kriegsverbrechen. Laut OCHA töteten israelische Besatzungstruppen im Westjordanland im Jahr 2023 492 Palästinenser*innen, davon 118 Kinder.

Wir begrüßen ausdrücklich, dass der UN-Sicherheitsrat am 25. März 2024 in seiner Resolution 2728 einen Waffenstillstand sowie die Freilassung der Geiseln fordert und außerdem die Notwendigkeit des Schutzes der Zivilbevölkerung in Gaza und des Zugangs zu humanitärer Hilfe betont. Beschlüsse des UN-Sicherheitsrats sind bindendes internationales Recht. Wir verurteilen, dass die israelische Regierung ebenso wie die Hamas und andere bewaffnete Gruppen diesem Beschluss nicht folgen.

Der Internationale Gerichtshof (IGH) hat am 26. Januar 2024 unter anderem gefordert, dass Israel wirksame Maßnahmen ergreifen muss, um die Bereitstellung von dringend benötigter Grundversorgung und humanitärer Hilfe zu ermöglichen. Die gesamte Bevölkerung Gaza hat aufgrund der Kriegshandlungen keinen ausreichenden Zugang zu Nahrungsmitteln, sauberem Wasser und medizinischer Versorgung. Laut der Integrated Food Security Phase Classification (IPC) vom 18. März 2024 sind alle 2,23 Millionen Einwohner*innen in einem hohen Maß mit akuter Ernährungsunsicherheit konfrontiert, wobei die Hälfte der Bevölkerung in die Kategorie einer Katastrophe/Hungersnot fällt. Im nördlichen Teil Gazas stehe eine Hungersnot unmittelbar bevor.

Wir fordern Sie als Mitglieder der Bundesregierung auf, Ihrer eigenen völkerrechtlichen Verantwortung gerecht zu werden sowie Ihren Einfluss zu nutzen und alle zur Verfügung stehende Maßnahmen zu ergreifen, um den Druck auf Israel zu erhöhen, die Forderungen des Internationalen Gerichtshofs zur Umsetzung zu bringen und die Blockade substantieller humanitärer Hilfe auf dem Landweg zu beenden.

Wir fordern Sie als Mitglieder der Bundesregierung eindringlich auf:

  • Stoppen Sie den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern nach Israel, die in Gaza oder im besetzten Westjordanland eingesetzt werden könnten und bei denen das Risiko besteht, dass mit diesen Menschenrechtsverletzungen oder Verletzungen des humanitären Völkerrechts begangen oder erleichtert werden könnten. Dies schließt potenzielle Abgaben von Bundeswehrmaterial ein.
  • Setzen Sie sich gemäß der Resolution 2728 des UN-Sicherheitsrates für einen sofortigen Waffenstillstand ein.
  • Setzen Sie sich gemäß der Resolution 2728 des UN-Sicherheitsrates für die Freilassung der Geiseln ein.
  • Unternehmen Sie alles in Ihrer Macht stehende, um die Achtung des humanitären Völkerrechts in Gaza durch alle beteiligten Konfliktparteien zu gewährleisten.   
  • Setzen Sie sich dafür ein, dass Israel die völkerrechtswidrige Blockade des Landwegs für substanzielle humanitäre Hilfe für die Zivilbevölkerung in Gaza beendet.

Unterzeichnende Organisationen:

  • ADRA Deutschland e.V.
  • Aktion Aufschrei - Stoppt den Waffenhandel!
  • Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF)
  • Amnesty International Deutschland
  • Ärzte der Welt e.V.
  • Bremer Friedensforum
  • Bund für Soziale Verteidigung e. V.
  • Bündnis für Gerechtigkeit zwischen Israelis und Palästinensern e.V. (BIP)
  • CARE Deutschland e.V.
  • Church and Peace - Europäisches friedenskirchliches Netzwerk
  • Deutscher Friedensrat e.V.
  • Essener Friedensforum
  • Forum Ziviler Friedensdienst e.V. (forumZFD)
  • Friedensglockengesellschaft Berlin e.V.
  • Hamburger Initiative gegen Rüstungsexporte
  • Handicap International e.V.
  • Initiative Nordbremer Bürger gegen den Krieg
  • Internationale Ärzt*innen für die Verhütung des Atomkrieges e.V. (IPPNW)
  • Internationaler Versöhnungsbund - Deutscher Zweig e.V.
  • Islamic Relief Deutschland e.V.
  • Jüdisch-Palästinensische Dialoggruppe München
  • Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.
  • medico international e.V.
  • México vía Berlín e.V.
  • Netzwerk Friedenskooperative
  • Netzwerk Friedenssteuer
  • NRC Deutschland gGmbH
  • Ohne Rüstung Leben e.V.
  • Oxfam Deutschland e.V.
  • Pacta Servanda e.V.
  • Partnerschaftsverein Bonn-Ramallah e.V.
  • pax christi - Deutsche Sektion e.V.
  • Referat für Internationale Studierende im AStA der Uni Hamburg
  • RüstungsInformationsBüro e.V.
  • terre des hommes Deutschland e.V.
  • Weltfriedensdienst e.V.
  • Werkstatt für Gewaltfreie Aktion, Baden e.V.

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